Velleius Paterculus

Historia Romana

Zweites Buch 97(1) Aber während in diesem Teil des Reiches alles höchst glücklich verlief, musste man in Germanien unter dem Legaten M.Lollius eine Niederlage hinnehmen. Dieser war ein Mann, dem der Gelderwerb allgemein mehr am Herzen lag als eine ordentliche Amtsführung, und gerade in seinem ausgeprägten Bestreben, seine Fehler zu verheimlichen, höchst verabscheuenswert. Diese Niederlage und der Verlust des Adlers der 5. Legion riefen Caesar von Rom in die gallischen Provinzen.(2) Die Last der Verantwortung wurde daraufhin dem Drusus Claudius übertragen, dem Bruder von Tiberius. Er war ein junger Mann mit so vielen glänzenden Gaben, wie sie ein Mensch von der Natur überhaupt nur erhalten oder durch eigenes Bemühen zur Vollkommenheit bringen kann. Ob er mit seine Talenten mehr für das Kriegswesen oder für die bürgerliche Laufbahn geeignet war, ließ sich kaum sagen. (3) Jedenfalls war er, wie es heißt, mit seiner liebenswürdigen, freundlichem Wesen und der Art, wie er seine Freunde nach ihrem wahren Wert einschätzte und als Gleichgesinnte behandelte, wahrhaft einmalig. In der Schönheit seiner äußeren Erscheinung war er seinem Bruder höchst ähnlich. Doch er, der Germanien größtenteils bezwungen und dabei auf mehreren Kriegsschauplätzen großes Blutvergießen unter diesem Volk angerichtet hatte, er wurde von der Ungunst des Schicksals als Konsul in seinem 30. Lebensjahr hinweggerafft. (4) Die Last dieses Krieges wurde daraufhin Tiberius Nero übertragen, und er meisterte seine Aufgabe mit dem ihn eigenen Glück dese Tüchtigen. Siegreich durchzog er alle Gebiete Germaniens, und zwar ohne jeglichen Verlust für die ihm anvertrauten Truppen; darauf war er bei seiner Heeresführung besonders bedacht. Er unterwarf Germanien so vollständig, dass er es fast zu einer steuerpflichtigen Provinz machte. Daraufhin erhielt er einen weiteren Triumph und ein zweites Konsulat.

100 (1) Die Welt fühlte, dass Tiberius Nero seinen Platz als Schildwache Roms verlassen hatte. Die Parther vielen vom römischen Bündnis ab und griffen nach Armenien über, und Germanien empörte sich, sobald sein Bezwinger die Augen abgewandt hatte.

104 (2)...Sein (Tiberius) Vaterland ließ der Schutz- und Schirmherrn seines Reiches nicht lange in der Stadt (Rom) verweilen, sondern sandte ihn alsbald nach Germanien. Dort war vorher, unter deinem Großvater M.Vinicius, diesem hoch angesehenen Mann, ein gewaltiger Krieg entbrannt. Vinicius hatte diesen Krieg auf einigen Schauplätzen glücklich geführt, an anderen Orten erfolgreich die Stellung gehalten, und man hatte ihm deswegen die Triumphalinsignien verliehen nebst einer höchst ruhmvollen Inschrift über seine Taten. (3) Zu diesem Zeitpunkt wurde ich, nachdem ich zuvor Tribun gewesen war, Soldat im Heer des Tiberius Caesar. Sogleich wurde ich, als Präfekt wie als Legat, neun Jahre hindurch Zuschauer bei seinen über menschliches Maß hinausgehenden Taten, ja im Rahmen meiner bescheidenen Fähigkeiten sogar Mithelfer.

105 (1) Tiberius rückte sogleich in Germanien ein, besiegte die Canniefaten, Attuarier und Brukterer und nahm die Cherusker in die Obhut des römischen Volkes auf. Diesem Volk entstammte Arminius, der bald durch unsere Niederlage bekannt werden sollte. Dann überschritt Tiberius Caesar die Weser und drang weiter ins Landesinnere vor, wobei er jeweils die gefährlichsten und schwierigsten Unternehmungen sich selbst vorbehielt. Gefahrlosere Expeditionen übertrug er dem Sentius Saturninus, der schon unter seinem Vater Legat in Germanien gewesen war.(2) Dieser Mann vereinigte viele Vorzüge in sich: Er war von reger Tatkraft und Voraussicht, ebenso ausdauernd wie erfahren im Kriegsdienst, aber er konnte auch, sobald ihm der Dienst freie Zeit ließ, diese Muße großzügig und mit Anstand genießen, ganz so, dass man ihn keinen schwelgerischen Müßiggänger, sondern eher einen heiter kultivierten Genießer hätte nennen können. Über seinen noblen Charakter und sein berühmt gewordenes Konsulat habe ich zuvor schon gesprochen. (3) Der Sommerfeldzug wurde in diesem Jahr bis in den Dezember ausgedehnt und brachte uns den Vorteil weiterer großer Siege. Seine treue Sohnesliebe führte Tiberius Caesar über die im Winter fast unwegsamen Alpen nach Rom, und die Sorge um den Schutz des Reiches brachte in im Frühjahr wieder zurück nach Germanien. Dort hatte er, mitten im Landesinneren an der Quelle des Flusses Lippe, vor seiner Abreise als erster ein Winterlager aufgeschlagen.

Velleius Paterculus ist der einzige Zeitzeuge der uns von den Ereignissen berichtet, und sich selbst in Germanien aufhielt. Geboren wurde er um 20 v. Chr. und stammte aus einer ritterlichen Familie aus Kampanien. Wie sein Vater und Großvater schlug er die Militärlaufbahn ein. Germanien lernte er bei mehreren Feldzügen unter Tiberius kennen. An der Varusschlacht nahm er selbst nicht Teil, sondern er kämpfte vermutlich während dieser Zeit als Soldat in Pannonien und Dalmatien. Seine Historia Romana verfasste er zu Ehren seines Freundes Marcus Vinicius im Jahr 29/30 nach Christus. Das kleine Werk gibt einen kurzen Überblick über die gesamte römische Geschichte bis zum Jahre 30 n. Chr.. 1515 entdeckte man die einzige Handschrift, die aber auch bald wieder verloren ging, weshalb der heutige Text auf zwei Kopien dieser Handschrift beruht.

106 (1) Ihr guten Götter, wie viele Bücher könnte man damit füllen, was wir im folgenden Sommer unter der Führung des Tiberius Caesar alles vollbracht haben! Unsere Heere durchzogen ganz Germanien, Völker wurden besiegt, die kaum vom Namen her bekannt sind, und die Chauken wurden in die Obhut des römischen Volkes aufgenommen. Ihre gesamte Kriegsmannschaft, unermesslich an Zahl, von enormer Körpergröße, wohlgesichert durch die Natur ihres Landes, lieferte ihre Waffen aus, und alle fielen zusammen mit ihren Führern vor dem Tribunal des Feldherrn auf die Knie, rings umgeben von einem waffenblitzenden Ring unserer Soldaten. (2) Geschlagen wurden auch die Langobarden, ein Volk, dass sogar die Germanen an wildem Kriegsmut noch übertrifft. Ja, es geschah schließlich, was man niemals zuvor zu hoffen gewagt, geschweige denn versucht hatte: Ein römisches Heer wurde mit seinen Feldzeichen 400 Meilen vom Rhein bis zum Fluss Elbe geführt, der durch das Gebiet der Semnonen und Hermonduren fließt. (3) Und dem bewundernswerten Glück wie der Vorsorge des Feldherrn sowie seiner genauen Beobachtung der Jahreszeiten war es zu danken, dass sich ebendort die Flotte wieder mit Tiberius Caesar und seinem Heer vereinigte. Sie war die Meeresbuchten entlang gesegelt, war aus diesem zuvor völlig unbekannten Meer in den Elbefluss hinein und stromaufwärts gefahren und brachte außer Siegen über zahlreiche Volksstämme auch eine reiche Fülle von Lebensmitteln aller Art mit sich.

107 (1) Ich kann es mir nicht versagen, diesen weltgeschichtlich bedeutsamen Ereignissen das folgende Erlebnis beizufügen, mag es auch unbedeutend sein. Unser Heer hatte am diesseitigen Ufer des genannten Flusses ein Lager aufgeschlagen, auf dem jenseitigen aber blitzten die Waffen der feindlichen Krieger, die bei jedem Manöver unserer Schiffe sogleich zurückwichen. Einer der Barbaren aber, ein älterer Mann von stattlicher Größe und, wie seine Kleidung zeigte von hohem Rang, stieg in einen Nachen – wie dort üblich , einen ausgehöhlten Baumstamm – und ruderte allein mit diesem Fahrzeug bis auf die Mitte des Flusses. Von dort bat er, ungefährdet zum Ufer, das wir besetzt hielten, kommen und den Caesar sehen zu dürfen. (2) Das wurde ihm erlaubt. Darauf ruderte er den Kahn ans Ufer und schaute den Caesar lange schweigend an. Schließlich sagte er: „ Unsere jungen Leute sind nicht bei Sinnen, verehren sie doch in euerer Abwesenheit euer göttliches Wesen; wenn ihr aber da seid, zeigen sie eher Angst vor euren Waffen, anstatt sich eurem Schutz anzuvertrauen. Ich habe aber, dank deiner günstigen Erlaubnis, Caesar, heute die Götter gesehen, von denen ich vorher nur gehört hatte. Einen glücklicheren Tag habe ich in meinem Leben weder erhofft noch erlebt.“ Nachdem ihm gestattet worden war, Caesars Hand zu fassen, stieg er wieder in seinen Kahn und fuhr an sein Ufer zurück, wobei er Caesar unverwandt anschaute. (3) Als Sieger über alle Völker und Gegenden, zu denen er gekommen war, führte Tiberius Caesar die Legionen ins Winterlager zurück. Sein Heer war ohne jegliche Verluste geblieben und hatte nur einmal eine Kraftprobe zu bestehen, und zwar durch einen Hinterhalt der Feinde, was diesen aber einen schwere Niederlage einbrachte. Mit der gleichen Eile wie im Vorjahr machte sich Tiberius Caesar auf den Weg nach Rom.

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Manilius

Strabo

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Cornelius Tacitus

Suetonius

Florus

Ptolemaios

Cassius Dio

Lokalisierung der Varusschlacht durch Paterculus

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108 (1) Es blieb in Germanien nichts mehr zu erobern übrig, außer dem Volksstamm der Markomannen. Diese waren unter ihrem Führer Marbod aus ihren bisherigen Wohnsitzen aufgebrochen, hatten sich ins innere des Landes zurückgezogen und bewohnten nun die Gegenden innerhalb des herkynischen Waldes.(2) Wenn ich auch so rasch vorgehe, so darf ich doch diesen Mann nicht unerwähnt lassen. Marbod war aus einem vornehmen Geschlecht und besaß einen kühnen Geist – mehr seiner Abkunft als seinen geistigen Fähigkeiten nach ein Barbar. Seine Vorherrschaft über seine Stammesgenossen hatte er sich nicht im Drang des Augenblicks mehr zufällig ergeben, noch war vielmehr die Idee eines festgegründeten Reiches mit königlicher Gewalt und beschloss daher, sein Volk weit von den Römern entfernt an einen Ort zu bringen, wo er es, nachdem er der stärksten Macht gewichen war, selbst zur stärksten machen konnte. Deshalb besetzte er die erwähnten Gegenden, unterwarf sich alle Nachbarn entweder im Krieg oder gewann sie durch Verträge für sich.

109 (1) Die Truppe, die sein Reich schützte, bracht er durch beständige Übung fast auf den Stand römischer Disziplin. In kurzer Zeit hatte er sie auf solche Höhe gebracht, dass sie selbst unserem Reich bedrohlich erschien. Gegen die Römer verhielt er sich so: Er vermied es, uns zum Krieg zu reizen, gab aber kund, dass er, falls er selbst gereizt würde, die Kraft und den Widerstand besäße. (2) Die Gesandten, die er zu den Caesars schickte, empfahlen ihn bald wie einen Schutzflehenden, bald sprachen sie von ihm wie von einem Gleichrangigen. Volksstämme und einzelne Personen, die von uns abfielen, fanden bei ihm einen Zufluchtsort. Im ganzen verhielt er sich, was er nur schlecht verhehlte, als ein Rivale Roms. Sein Heer, das er auf die Stärke von 70000 Fußsoldaten und 4000 Reitern gebracht hatte, übte er in beständigen Kriegen gegen die Nachbarvölker und bereitete es so auf eine größere Aufgabe als die gegenwärtige vor. (3) Marbod war auch deswegen zu fürchten, weil er zur Linken und vor sich Germanien, zur Rechten  Pannonien und im Rücken seines Gebietes die Noriker hatte. So wurde er von allen gefürchtet, als würde er jeden Augenblick gegen sie alle vorrücken. (4) Ja, er ließ auch Italien nicht die Möglichkeit, beim Anwachsen seiner Macht ruhig zuzusehen, da zwischen den höchsten Alpenpässen, die Italiens Grenze bilden, und der vorderen Grenzlinie seines Reiches nicht mehr als 200 Meilen lagen. (5) Diesen Mann nun und diese Gegend beschloss Tiberius Caesar im nächsten Jahr von verschiedenen Seiten her anzugreifen. Sentius Saturninus erhielt den Auftrag, mit seinen Legionen durch das Gebiet der Chatten nach Boiohaemum zu marschieren, so heißt die Gegend die Marbod bewohnt, und dabei sollte er eine Bresche durch die undurchdringlichen Herkynischen Wälder schlagen. Tiberius selbst wollte von Carnuntum aus, einem Ort im Königreich Noricum,  der jener Gegend am nächsten liegt, mit den Truppen, die in Illyrien dienten, gegen die Markomannen aufbrechen.

110 (1) Das Schicksal macht bisweilen die menschlichen Pläne zunichte, bisweilen hält es sie auf. Tiberius Caesar hatte schon die Winterquartiere an der Donau vorbereiten lassen und war mit seinem Heer bis auf fünf Tagesmärsche an die Vorhut der Feinde herangerückt. (2) Die Legionen, die er unter Saturninus hatte aufbrechen lassen, waren in fast gleicher Entfernung vom Feind und sollten sich in wenigen Tagen am vereinbarten Ort mit Tiberius Caesar vereinigen. Ganz Pannonien aber, übermütig durch die Segnungen eines langen Friedens und im Vollbesitz seiner Kräfte, griff mit einem Mal zu den Waffen, nachdem es mit Dalmatien und allen dortigen Völkerschaften Bündnisse geschaffen hatte. (3) Da wurde der Ruhm der Notwendigkeit geopfert: Es erschien gegen die belange der Sicherheit, ein Heer im innersten Winkel des Landes zu vergraben und Italien ungeschützt dem Angriff eines so nahen Feindes zu überlassen.

117(1) Kaum hatte Tiberius Caesar die letzte Hand angelegt, um den pannonischen und dalmatischen Krieg endgültig zu beenden, da brachten- nur fünf Tage, nachdem er diese gewaltige Aufgabe beendet hatte- Depeschen aus Germanien die Unglücksbotschaft, dass Varus getötet und drei Legionen niedergemetzelt seien, dazu ebenso viele Reitergeschwader und sechs Kohorten. Es war gerade, als ob uns das Schicksal dabei noch eine Gnade erwiesen hätte: dass nämlich unser Feldherr zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf einem anderen Kriegschauplatz beschäftigt war. Die Ursache der Katastrophe sowie die Person des Heerführers machen es erforderlich, dass ich hierbei kurz verweile. (2) Quintilius Varus stammte aus einer angesehenen, wenn auch nicht hochadeligen Familie. Er war von milder Gemütsart, ruhigem Temperament, etwas unbeweglich an Körper und Geist, mehr an müßiges Lagerleben als an den Felddienst gewöhnt. Das er wahrhaft kein Verächter des Geldes war, beweist seine Statthalterschaft in Syrien: Als armer Mann betrat er das reiche Syrien, und als reicher Mann verließ er das arme Syrien. (3) Als er Oberbefehlshaber des Heeres in Germanien wurde, bildete er sich ein, die Menschen dort hätten außer der Stimme und Gliedern nichts Menschenähnliches an sich, und die man durch das Schwert nicht hatte zähmen können, die könne man durch das römische Recht lammfromm machen,(4) Mit diesem Vorsatz begab er sich in das innere Germaniens, und als habe er es mit Männern zu tun, die die Annehmlichkeiten des Lebens genossen, brachte er die Zeit des Sommerfeldzugs damit zu, von seinem Richterstuhl aus Recht zu sprechen und Prozessformalitäten abzuhandeln.

118 (1) Die Leute dort sind aber- wer es nicht erfahren hat, wird es kaum glauben- bei all ihrer Wildheit äußerst verschlagen, ein Volk von geborenen Lügnern. Sie erfanden einen Rechtstreit nach dem anderen; bald schleppte einer den anderen vor Gericht, bald bedankten sie sich dafür, dass das römische Recht ihren Händeln ein Ende mache, dass ihr ungeschlachtes Wesen durch diese neue und unbekannte Einrichtung allmählich friedsam werde und, was sie bisher durch Waffengewalt entschieden hätten, nun durch Recht und Gesetz beigelegt würde. Dadurch wiegten sie Quintilius Varus in höchster Sorglosigkeit, ja, er fühlte sich eher als Stadtprätor, der auf dem römischen Forum Recht spricht, denn als Oberbefehlshaber einer Armee im tiefsten Germanien.(2) Es gab damals einen jungen Mann aus vornehmen Geschlecht, der tüchtig im Kampf und rasch in seinem Denken war, ein beweglicherer Geist, als es die Barbaren gewöhnlich sind. Er hieß Arminius und war der Sohn des Sigimer, eines Fürsten jenes Volkes. In seiner Miene und in seinen Augen spiegelte sich sein feuriger Geist. Im letzten Feldzug hatte er beständig auf unserer Seite gekämpft und hatte mit dem römischen Bürgerrecht auch den Rang eines Ritters erlangt. Nun machte er sich die Indolenz unseres Feldherrn für ein Verbrechen zunutze. Es war kein dummer Gedanke von ihm, dass niemand leichter zu fassen ist als ein Nichtsahnender, und dass das Unheil meistens dann beginnt, wenn man sich ganz sicher fühlt. (3) Erst weihte er nur wenige, dann mehrere in seinen Plan ein. Die Römer könnten vernichtet werden, das war seine Behauptung, mit der er auch überzeugte. Er ließ den Beschlüssen Taten folgen und legte den Zeitpunkt für den Hinterhalt fest. (4) Dies wurde dem Varus von Segestes hinterbracht, einem loyalen Mann jenes Volkes mit angesehenem Namen. Er forderte Varus auf, die Verschwörer in Ketten zu legen. Aber das Schicksal war schon stärker als die Entschlusskraft des Varus, und hatte die Klarheit seines Verstandes völlig verdunkelt. Denn so geht es ja: wenn ein Gott das Glück eines Menschen vernichten will, dann trübt er meistens seinen Verstand und bewirkt damit- was das beklagenswerteste daran ist- dass dieses Unglück scheinbar verdientermaßen eintrifft und sich Schicksal in Schuld verwandelt. Varus wollte es also nicht glauben und beharrte darauf, die offensichtlichen Freundschaftsbezeugungen der Germanen gegen ihn als Anerkennung seiner Verdienste zu betrachten. Nach diesem ersten Warner blieb für einen zweiten keine Gelegenheit mehr.

119 (1) Den Ablauf dieser schrecklichen Katastrophe – die schwerste Niederlage der Römer gegen auswärtige Feinde seit der des Crassus gegen die Pharter werde ich wie schon andere es getan haben, in meinem größeren Geschichtswerk ausführlich darzustellen versuchen, hier sei des Ereignisses nur mit Trauer gedacht. (2) Die tapferste Armee von allen, führend unter den römischen Truppen, was Disziplin, Tapferkeit und Kriegserfahrung angeht, wurde durch die Indolenz des Führers, die betrügerische List des Feindes und die Ungunst des Schicksals in einer Falle gefangen. Weder zum Kämpfen noch zum Ausbrechen bot sich ihnen, so sehnlich sie es sich auch wünschten, ungehindert Gelegenheit, ja, einige mussten sogar schwer dafür büßen, dass sie als Römer ihre Waffen und ihren Kampfgeist eingesetzt hatten. Eingeschlossen in Wälder und Sümpfe, in einem feindlichen Hinterhalt, wurden sie Mann für Mann abgeschlachtet, und zwar von dem selben Feind, den sie ihrerseits stets wie Vieh abgeschlachtet hatten- dessen Leben und Tod von ihrem Zorn oder ihrem Mitleid abhängig gewesen war. (3) Der Führer hatte mehr Mut zum Sterben als zum Kämpfen. Nach dem Beispiel seines Vaters und Großvaters durchbohrte Varus sich selbst mit dem Schwert. (4) Von den beiden Lagerpräfekten aber gab der eine, L. Eggius, ein heldenhaftes, der andere, Ceionius, ein Erbärmliches Beispiel. Der letztere bot, nachdem der größere Teil des Heeres schon umgekommen war, die Übergabe an: Er wollte lieber hingerichtet werden als im Kampf sterben. Numonius Vala aber, ein Legat des Varus, sonst ein ruhiger und bewährter Mann, gab ein abschreckendes Beispiel: Er beraubte die Fußsoldaten des Schutzes durch die Reiterei, machte sich mit den Schwadronen auf die Flucht und suchte den Rhein zu erreichen. Jedoch das Schicksal rächte seine Schandtat: Er überlebte seine Kameraden nicht, von denen er desertiert war, sondern fand als Deserteur den Tod. (5) Den halbverkohlten Leichnam des Varus rissen die Feinde in ihrer Rohheit in Stücke. Sie trennten sein Haupt ab und sandten es zu Marbod. Dieser wieder schickte es zu Caesar Augustus, der ihm trotz allem die Ehre eines Familienbegräbnisses gewährte.

120 (1) Auf diese Nachricht hin machte sich Tiberius Caesar in fliegender Eile auf zu seinem Vater. Als ständiger Schutzherr des römischen Reiches übernahm er seine angestammte Aufgabe. Er wurde nach Germanien entsandt, sicherte die gallischen Provinzen, verteilte die Armeen, verstärkte die Besatzungen und bemaß seine Aussichten nach seinem eigenen Feldherrentalent und nicht nach der Siegeszuversicht der Feinde, die Italien mit einem neuen Kimbern und Teutonenkrieg drohten. (2) So überschritt er seinerseits mit dem Heer den Rhein  und trug den Krieg ins Land des Feindes, während sein Vater und sein Vaterland sich mit der Abwehr begnügt hatten. Er drang ins Landesinnere ein, legte die Grenzwege offen, verwüstete die Äcker, brannte die Häuser nieder, schlug alle, die sich ihm entgegen stellten, und kehrte mit Ruhm bedeckt und ohne jeglichen Verlust bei seinen Truppen, die er über den Rhein geführt hatte, ins Winterlager zurück. (3) Hier soll nun auch L. Asprenas mit Fug und Recht Erwähnung finden. Er war Legat unter seinem Onkel Varus gewesen und hatte durch sein tapferes, mannhaftes Verhalten das aus zwei Legionen bestehende Heer, das er befehligte, unversehrt aus der großen Katastrophe gerettet. Und in dem er in Eilmärschen in die Winterquartiere Germaniens zog, bestärkte er die diesseits des Rheines wohnenden Völker, die schon schwankend geworden waren, in ihrer Treue. Dennoch gibt es Leute, die glauben, er habe zwar die Lebenden gerettet, aber auch die Hinterlassenschaft der mit Varus Umgekommenen an sich gebracht und nach seinem Belieben die Erbschaft de getöteten Soldaten angetreten. (4) Lobende Erwähnung verdient ebenso die Tapferkeit des Lagerpräfekten L. Caedicus und seiner Soldaten, die mit ihm in Aliso eingekesselt und von den Germanen mit einer ungeheueren Truppenmacht belagert wurden. Sie meisterten ihre schwierige Lage, die der Mangel an Lebensmitteln schier unerträglich und die Übermacht der Feinde fast aussichtslos gemacht hatte. Dabei verließen sie sich weder auf tollkühne Entschlüsse noch auf zauderndes hin- und Herüberlegen, sondern fassten eine günstige Gelegenheit ins Auge und schlugen sich mit dem Schwert in der Hand zu ihren Kameraden durch. (5) Hieraus ersieht man, dass Varus, durchaus ein Mann mit den besten Absichten, sein Leben und seine großartige Armee eher wegen seiner Schwäche als Feldherr verlor und nicht, weil ihn die Soldaten mit mangelnder Tapferkeit im Stich gelassen hätten. (6) Als die Germanen gegen die Gefangenen wüteten, zeichnete sich der junge Caelius Caldus, ein würdiger Spross seiner altberühmten Familie, durch eine tapfere Tat aus. Er schmetterte ein Ende der Kette, mit der er gefesselt war, mit solcher Wucht gegen seinen Kopf, dass sein Blut und sein Gehirn ausflossen und er sogleich sein Leben aushauchte.

121 (1) Mit der gleichen Tatkraft und dem Kriegsglück wie zu Anfang drang der Imperator Tiberius in der folgenden Zeit in Germanien ein. Er brach die Macht des Feindes durch Kriegszüge mit der Flotte und mit dem Landheer, ordnete die schwierigen Verhältnisse in Gallien und besänftigte die erhitzten Gemüter der aufständischen Bürger von Vienna, und zwar mehr durch strenges Auftreten als durch Strafen.

122 (2) Und als er nach seiner Adoption in einer dreijährigen ununterbrochenen Kampagne Germanien unterworfen hatte – hätte er da nicht die gleichen Ehren erhalten und annehmen müssen? Und als sich nach der Niederlage des Varus die Dinge rascher als erwartet zum Guten wandten und Germanien vernichtend geschlagen war – hätte da nicht dieses Germanien dem großen Feldherrn zur Zierde seines Triumphes dienen müssen?

Aus Giebel Marion: Velleius Paterculus - Historia Romana/ Reclam

 

 
 

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